Die Geschichte erschien im „Neuen Karlsruher Lesebuch“, 1. Auflage 2010.
Mit leisen, ehrfürchtigen Schritten nimmt die Besuchergruppe die steinernen Stufen, hinab in die Gruft. Ein kühler Lufthauch schlägt den sommerlich Gekleideten entgegen. Es riecht nach Tod. Nach jahrhundertealtem Tod.
Das Gemäuer ist schlicht. Die Beleuchtung schummrig. Sarkophag steht neben Sarkophag. Die Zwischenräume sind eng. Die rüstige Mittsechzigerin, die die Gruppe anführt, postiert sich neben einem schweren Exemplar vorne in der Gruft. Sie legt eine Hand besitzergreifend auf die dunkle Bronze. „Wir befinden uns hier in der Grablege des sächsischen Fürstengeschlechts. Beginnen wir mit dem Jüngsten, dem zuletzt Verstorbenen. Friedrich August der Dritte soll bei einem Badeunfall vor Ausbruch des 2. Weltkriegs ums Leben gekommen sein.“ Betretenes Schweigen herrscht in der Gruft. „Ich aber sage Ihnen“, sie senkt verschwörerisch ihre Stimme wie hunderte Male zuvor an dieser Stelle, „es war kein Unfall.“ Die Gruppe hält den Atem an. „Es war Mord! Auch wenn die Wissenschaft den letzten Beweis schuldig geblieben ist.“ Ein graues Haarbüschel fällt ihr ins Gesicht. Sie wischt es zur Seite, während sie erregt die Beweggründe ihrer Theorie erläutert.
Irgendwann unterbricht sie ihre Ausführungen und lässt die Gruppe – so scheint es – kopflos zurück, um Augenblicke später mit einer geschickten Wende zwischen zwei prunkvollen Sarkophagen stehenzubleiben. „Und? Wen haben wir denn da?“ fragt sie ohne eine Antwort abzuwarten. „Ich hatte es oben bereits erwähnt.“ Mit der flachen Hand klatscht sie auf den kalten Stein zu ihrer Rechten. „Hier liegt der Gründerfürst der Residenz. Und da seine Gemahlin.“ Ein weiteres Klatschen identifiziert den zweiten betroffenen Sarg. „Maria Josepha war eine fortschrittliche Frau, eine Mäzenin, ein Glücksfall für Elbflorenz, wie Dresden auch genannt wird.“ Dann senkt sie ihren Blick und streicht über Friedrichs Sarg. „Friedrich August war Kurfürst von Gottes Gnaden. Den Kurfürsten alleine war es vorbehalten den König zu wählen.“ „Friedrich!“ ruft sie anerkennend, während sie das graue Haar aus ihrem Gesicht streicht. „Wir sind stolz auf dich!“
Oben im 52 Meter langen Mittelschiff neben der Benno-Kapelle ohne Kuppelfries war die Besuchergruppe bereits behutsam in die Todesproblematik eingeführt worden. Dort hatte sie die jüngsten Tode erläutert, die in der Hofkirche gestorben worden waren. Mit zerbarsten Lungenflügeln soll der Pastor nach den verheerenden Luftangriffen auf Dresden aufgefunden worden sein. Der übermäßige Druck sei es gewesen, der seine inneren Organe zerfetzt habe. Er sei ohne jede Chance gewesen, erklärte sie der Besuchergruppe mit Trauermine.
In der Gruft erläutert sie die Inhalte der restlichen Sarkophage. Sie erwähnt die einzelnen Friedriche und Auguste. Sie macht aufmerksam auf die kleineren Särge. Kinder zumeist, die in jungen Jahren zwar, aber immerhin fürstlich gestorben seien. Sie erwähnt das alles vernichtende Hochwasser vor wenigen Jahren und lässt die Sarkophage vor den Augen der Besucher von ihren Sockeln abheben und – geführt von ihrer Hand – durch die Gruft schwimmen. Manche Särge seien nach dem Rückzug des Hochwassers geöffnet worden. Mit eigenen Augen habe sie die fürstlichen Schädel, Schlüsselbeine und Beckenknochen gesehen, sagt sie stolz, wobei sie mit den Händen die betroffenen Partien am eigenen Körper markiert.
„Aber jetzt“, sagt sie aufgeregt, „kommt das Beste.“ „Haben wir junge Frauen unter uns?“ Sie schaut sich um. „Kommen Sie doch einmal nach vorne.“ Sie bahnt den Verschüchterten einen Weg durch die Gruppe. „Den Rest der Besucher möchte ich bitten aufmerksam zu sein.“ In der Gruft wird es totenstill. „Hier“, sagt sie triumphierend und streicht ihre Haare aus dem Gesicht, „hier in dieser Kapsel befindet sich das Herz August des Starken.“ Pause. „Hören Sie genau hin!“ Die Besuchergruppe lauscht gebannt. Manche haben die Hand an die Ohrmuschel gelegt. „Man sagt“, flüstert sie in die Stille, „wenn ein junges Mädchen vorbeilaufe, fange das Herz wieder zu schlagen an. Hören Sie es?“
Mit der Bitte um eine Spende stellt sie sich abschließend an den Ausgang der Gruft, wo sie jeden Passierenden eindringlich mustert und jede klingende Münze dankbar würdigt.
(nw, 21.04.2009)